Vor 80 Jahren in Böckingen
12. Juni 2025
Zum Kriegsende im Mai 1945 in Böckingen
Vor 80 Jahren in Böckingen
Viele ältere Böckinger*innen denken in diesen Wochen und Monaten an das Ende des Zweiten Weltkrieges vor 80 Jahren, am 8. Mai 1945. Die meisten von ihnen erinnern sich daran, dass die anfänglich große Erleichterung unmittelbar in die Not des Wiederaufbaus überging. Und sie erinnern sich an das Kriegsgefangenenlager der Amerikaner und die unsäglichen Zustände dort. Wenige derer, die jene Zeit noch selbst erlebt haben, wollen darüber sprechen.
Berthold Schäffner, pensionierter Geschichtslehrer und Wahl-Böckinger seit 1980, hat sich auf Spurensuche begeben. Ein Gastbeitrag.
Bernhard Fundus ist ein engagierter, fleißiger, offenherziger, allseits freundlicher und hilfsbereiter Gärtner. Infolge seiner Arbeit auf dem Böckinger Friedhof an der Heidelberger Straße kennt er eine Vielzahl von Gräbern und Schicksalen, ferner einige Zeitzeugen und deren Geschichten. Er hat sich gleichsam als Quelle zur Verfügung gestellt, um den Autor dieses Artikels – und damit alle Leser*innen des Blättles, die aufgeschlossen sind für Böckinger Heimatgeschichte – an seinem Wissen und seinen Erinnerungen teilhaben zu lassen.
Noch im Mai 1945 erlebte die Familie Fundus, wie fünf Panzer die Heidelberger Straße hinunter fuhren. Weil ein deutscher Soldat den mittleren Panzer beschoss, blieben die anderen stehen und drehten ihre Geschütztürme in Richtung der Gärtnerei. Ein donnernder Schuss fiel und traf direkt in die Schlafstube – in der sich zu diesem Zeitpunkt niemand aufhielt. Alle waren froh, dass die Gärtnerei nicht „platt gemacht“ wurde. Andere Schüsse kurz vor Kriegsende trafen Gräber auf dem Friedhof. Wie unfreiwillig Auferstandene lagen hier und da Tote auf dem Weg.
Nach Kriegsende errichteten die siegreichen amerikanischen Streitkräfte auf der Schanz ein Lager, das auf einer Fläche von 144 Hektar zeitweise bis zu 150.000 Kriegsgefangene fasste, dafür aber in keiner Weise ausgelegt war. Der Vater des Böckingers Walter Dill, Gustav Dill, war einer davon. Seine Lebensgeschichte begann auf einem Bauernhof in Ostpreußen, der Krieg verschlug ihn nach Frankreich und von dort ging es in Gefangenschaft nach Böckingen. Wo er zu seinem Glück von Theodor Zimmer-mann wahrgenommen wurde.
Theodor Zimmermann wirkte ab 1942 als evangelischer Pfarrer in Böckingen. Von seiner Gemeinde respektvoll „der lange Z“ genannt, nahm sich der ebenso strenge wie mitfühlende Geistliche in den Jahren 1945 und 1946 der Kriegsgefangenen an. Sobald es möglich war, errang er eine Sondergenehmigung zum Betreten das Lagers, um dort regelmäßig Gottesdienste abzuhalten. In der Folge half er unzähligen Lagerinsassen beim Neuanfang.
So wusste er zum Beispiel von der verheirateten Frau Böttinger, deren Mann (bis 1948) im Irak in Kriegsgefangenschaft war und folglich auf dem Bauernhof fehlte. Auch die frischvermählte Tochter Lina musste ihren Mann nach Russland in den Krieg ziehen lassen, nun galt er als vermisst. Pfarrer Zimmermann sprach beim Kommandanten des Lagers vor und erreichte, dass Gustav Dill, der sich nach eigenem Bekunden in der Landwirtschaft auskannte, seine wenigen Habseligkeiten packen und fortan auf dem Hof der beiden Frauen arbeiten durfte. Dill war klar, dass er nicht mehr in seine ostpreußische Heimat zurückkehren konnte; er begriff die Gelegenheit, das Lager hinter sich zu lassen und künftig in einer richtigen Scheune unterzukommen, als gnädigen Wink des Schicksals. An den Umstand, dass man in Böckingen mit kräftigen, aber langsamen Ochsen arbeitete anstatt mit Pferden, wie in seiner ostpreußischen Heimat üblich, hatte er sich bald gewöhnt. Ebenso bald lernte er andere Bauern und deren Töchter kennen – und so kam es schließlich zur Heirat mit Hilde Beckert.
Nicht alle Geschichten, die man zu hören bekommt, sind so lang wie die von Gustav Dill. Manche sind sogar sehr kurz, gleichsam Episoden: So holten die Amerikaner unvermutet den Onkel des Böckingers Bernd W. ab und verfrachteten ihn ins Lager auf der Trappenhöhe, um ihn zu verhören. Die Sache ging gut für ihn und seine Familie aus, nach ein paar Tagen wurde er wieder entlassen.
Oder der Böckinger Bauer, der als Soldat gedient hatte und als Gefangener auf der Trappenhöhe landete – auf seinem eigenen Acker. Oder Bernhard Fundus‘ Oma Emilie, die heimlich Lebensmittel aus dem eigenen Haushalt zu den Männern im Lager brachte, immer auf der Hut, um nicht erwischt zu werden.
Martha Bernecker gab ihrem damals neunjährigen Sohn Ewald ein Körbchen mit Äpfeln, die er den ausgehungerten Gefangenen zuwerfen sollte, die über die Heidelberger Straße hinauf zum Lager marschieren mussten. Die Amerikaner bestraften den kleinen Ewald dafür nicht. Auch Pfarrer Zimmermann warf ab und zu eigens zu diesem Zweck gebackenes Brot über den Stacheldrahtzaun. Es sei vorgekommen, so wird erzählt, dass sich Frauen von Gefangenen mit Amerikanern eingelassen haben, um ihre Männer zu retten.
Im Kreuzgrund wurde in den 1930er-Jahren eine Siedlung errichtet, deren erster Bauabschnitt am 17. Juli 1938 eingeweiht wurde. Wachmannschaften des unweit gelegenen Lagers besetzten den Kreuzgrund ab Ende Mai 1945 und beschlagnahmten die Häuser. Deren Bewohner hatten keine andere Wahl, als sich zu fügen und zu gehen, im besten Fall kamen sie bei Verwandten unter. Der Böckinger Karl Knödler hatte nach dem Bombenangriff auf Heilbronn 15 Wohnungslose in sein Haus aufgenommen – dann kamen amerikanische Soldaten und reklamierten es für sich. „In einer Sand- und Kiesgrube in Richtung Großgartach haben sie sich eine Höhle gegraben und dort gehaust“ erzählt Bernd Knödler, sein Enkel.
Bis Ende des Jahres 1961 waren die letzten Überreste des zwischenzeitlich mehrfach anderweitig genutzten Lagers beseitigt. Neben den Gräbern auf dem Friedhof Böckingen, Heidelberger Straße, erinnert heute nur noch eine Gedenktafel am Kraichgauplatz auf der Schanz an das Lager.
Text: Berthold Schäffner / Redaktion